Freitag, 11. Juni 2010

Das rote Rathaus in Montabaur


Der Grosse Markt vor dem Roten Rathaus in Montabaur dient bis heute als Versammlungsraum der Bürger der Stadt, wenn öffentliche Anliegen vorzutragen sind. Am Tag des Frühlinganfangs im Jahre 2011 trugen die Bewohner des Westerwaldes das Anliegen an die Öffentlichkeit, alle Atomkraftwerke in der Europäischen Gemeinschaft zu schliessen.


Als Mitte der historischen Stadt Montabaur galt über lange Zeit der Große Markt mit seinem roten Rathaus aus Backsteinen. Dadurch, daß es zu einem Rathausneubau nach dem zweiten Weltkrieg kam, der am Konrad-Adenauer Platz steht und einen Verbindungsgang in luftiger Höhe zum alten Rathaus hat, ist es strittig, was inzwischen als die Mitte der Stadt


aufzufassen ist. Als Mitte kann der inzwischen sanierte Konrad-Adenauer Platz gelten, dessen Bodenbelagsfarbe, ein blaßes Gelb, so wirkt, als haben die Gestalter auf die Leichenblässe des Altbundeskanzlers verweisen wollen. Der Volksmund spricht darüber in scherzhafter Form, die dem Altkanzler sicher gefallen würde, weilte er noch unter den Lebenden. Obwohl die neue Platzgestaltung als gelungen zu bezeichnen ist, zeigt sie doch sehr große Schwächen im Bereich des moderneren Rathausanbaues.


Das alte Rathaus aus roten Backsteinen hat eine lange Geschichte hinter sich gebracht, jedoch ist trotzdem sein neugotisches Aussehen nie so angetastet worden, daß dies nicht mehr ablesbar wurde. Umbauten bezogen sich auf das Innere und die offene Eingangsvorhalle. Man weihte es pompös ein, als das Gebiet des Herzogtums Nassau, zu dem Montabaur gehörte, an den preußischen Staat angegliedert wurde.

Es läßt sich darüber spekulieren, warum dieses Rathaus im Stil der Neugotik ausgeführt wurde. Man kann es sich einfach machen und sagen, es war der Baustil der Zeit. Bislang wurde nicht auffindbar, wer der Baumeister dieses Gebäudes war und warum er sich dazu entschloß, eine neugotische Architekturgestalt zu wählen. Sieht man sich das Gebäude, so wie es heute zu sehen ist, genau an, kommt man auf jeden Fall zu dem Schluß, daß der Bau gut proportioniert und interessant durchgestaltet wurde. Jedoch, wie kam es zur Neugotik?

In der Zeit der Romantik hatte man in England davon geschwärmt, Parkanlagen zu gestalten, die wie romantische Landschaftsgemälde wirken sollten. In solche naturnah gehaltenen Parks streute man Bauruinen, um die malerische Wirkung zu steigern. Schließlich wagte man sich daran, auch gotische Bauruinen als Versatzstücke aufzustellen, um bei Spaziergängen im Park erbauliche Erlebnisse haben zu können. Solche Parks erfand man für englische Herrenhäuser auf dem Lande, wo gerne Gäste empfangen wurden und gesellschaftliche Ereignisse genutzt wurden, um auf einer Party zusammenzukommen. Es wurde Mode, von gotischen Ruinen zu schwärmen. Solche Ideen gelangten auch in den deutschen Kulturraum und fanden Widerhall bei der Umgestaltung von Parkanlagen, die den englischen gleich kommen sollten. 


Die Altertumsforschung, die archäologische und kunsthistorische Bestandsaufnahmen von Bauruinen und überkommenen historischen Bauten leistete, erzeugte bald ein wesentlich besseres Bild von der mittelalterlichen Gotik, sodaß an alten gotischen Bauten Restaurierungen gewagt werden konnten und sogar, wie im Falle des Kölner Doms, der Weiterbau betrieben wurde, um zu beweisen, wie hochstehend die deutsche Baukunst ist und auf welche baumeisterlichen Qualitäten erneut zurückgegriffen werden kann. Man ging dieses Wagnis jedoch nur ein, weil ein grundlegender Wandel in den Auffassungen zur Gotik bei den Deutschen eingetreten war.

Seit Vasari, der zur Zeit der Renaissance in Italien kunstgeschichtlich arbeitete, abfällig über die deutsche Baukunst geschrieben hatte und das Gerücht in Umlauf gekommen war, die gotische Architektur sei eine deutsche Bauart, die "maniera tedesca, war es Mode geworden, in der wissenschaftlichen Literatur zur Baukunst abwertend über die Gotik zu schreiben. Jedoch änderte sich das im späten 18.Jahrhundert durch Johann Wolfgang von Goethe, der bei der Besichtigung des Straßburger Münsters völlig von dieser Baukunst überwältigt war und seine Begeisterung für dieses Bauwerk und die Kunst deutscher Baumeister in seiner Literatur zum Ausdruck brachte. Der eigentliche Wandel in den Auffassungen, wie man die Gotik anzusehen habe, entstand jedoch nach dem Sieg über Napoleon, der mit der Völkerschlacht bei Leipzig zur Preisgabe der durch die Franzosen besetzten Gebiete gezwungen wurde und dann abdanken mußte.

Man sah damals auf das Deutsche wieder mit Begeisterung und verehrte die gotische Architektur als reine und kraftvolle deutsche Baukunst, bis in der Mitte des 19.Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturraum endlich akzeptiert wurde, wo die Gotik entstanden war: in Frankreich.

Reichensperger, ein Befürworter des Weiterbaus des Kölner Doms, sah ein, als er die Zeichnungen von der gotischen Kathedrale in Amiens mit denen des Kölner Doms verglich, daß der Kölner Dom von der etwas älteren Kathedrale in Amiens abgeleitet worden war. Die deutsche Annahme, man habe im bereits vorhanden Teil des Kölner Doms, dem Chor und dem Turm, eine qualitativ hochwertige deutsche Baukunst vor sich, brach in sich zusammen, denn der Baumeister der Kathedrale in Amiens war ein Belgier. Man schuf sich einen neuen Denkrahmen und sprach daraufhin von christlich-germanischer Baukunst, da im germanischen Gebiet der Franken, genauso der Rheinländer und anderswo die Gotik entwickelt und nach und nach zur Blüte gebracht worden war.

Es gab jedoch im Norden des deutschen Kulturraumes Architekten wie Bülau, die der Auffassung waren, in der gotischen Baukunst spiegele sich demokratischer Geist. Und als in Hamburg zu Beginn des 19.Jahrhundert bei einem Stadtbrand auch das Rathaus niederbrannte, entschloß man sich zu einem Architekturwettbewerb, um die beste Idee für einen Rathausneubau zu finden. Aus dieser Hamburger Debatte wurde eine Generaldebatte im deutschen Kulturraum, wie moderne Rathäuser auszusehen hatten. Damals entschlossen sich sehr viele Städte, wie Hannover, Berlin, Wien und andere Städte zu einem Rathausneubau, da die Bevölkerung der Städte in der Zeit der Industrialisierung immer rascher wuchs und die Rathäuser größer und effizienter zu bauen waren. Auch in Montabaur im Westerwald kam es zu einer Debatte, wie ein neues Rathaus zu errichten sei.

In Montabaur entschloß man sich zu einem neugotischen Bau. Da im Mittelalter stolze Städte über ein sehr selbstbewußtes Bürgertum verfügten, das die Geschicke der Stadt selbst lenken wollte, sah man in der Gotik zugleich auch den demokratischen Grundgedanken zum Ausdruck gebracht. Die demokratischen Bestrebungen, die seit Beginn des 19.Jahrhunderts zur Verwirklichung kommen wollten, bedienten sich folglich der Neugotik, um darauf zu verweisen. Montabaur bekam deshalb sein neugotisches Rathaus aus roten Backsteinen.

Es lohnt sich, dem gotischen Baugedanken genauer nachzugehen, da sich mit ihm Fortschrittskräfte zum Ausdruck bringen wollten. Daß das Rathaus gerade rechtzeitig fertig wurde, als der Anschluß des Gebietes des Herzogtums Nassau an Preußen erfolgte, kann darauf verweisen, daß die mit der Wirtschaft vertrauten Kreise bereits wußten, daß sich Veränderungen anbahnen werden. Denn die Industriellen im Herzogtum Nassau, einem Gebiet, das Westerwald und Taunus umfaßte und die Stadt Wiesbaden zur Hauptstadt hatte, waren immerzu bestrebt gewesen, Nassau an den preußischen Staat anzugliedern. Sie versprachen sich davon bessere wirtschaftliche Bedingungen für ihre Industrieproduktion und den Warentransport. Sie hatten guten Grund dazu, denn das Gebiet an der Lahn, der Rand des Westerwaldes und des Taunus war das Vorläufergebiet des Ruhrgebietes. Hier wurde Erz abgebaut und Holz zu Holzkohle verwandelt, bis man im Westerwald auf Braunkohle gestoßen war.

Als die Dampfschiffahrt aufkam und man das Erz in das Kohlengebiet an der Ruhr bringen konnte, und außerdem modernere Verhüttungsverfahren zur Verfügung standen, verlagerte sich das Industriegebiet von der Lahn weg an die Ruhr. Aber all das konnte auch nur deshalb geschehen, weil es den Wirtschaftskräften gelungen war, die Kleinstaaterei zu beenden und neue und große offene Wirtschafts- und Handelsräume zu gestalten. Preußen war damals die staatliche Macht, der man den Wandel am ehesten zutraute. Das rote Rathaus in Montabaur war vielleicht nicht zufällig genau an dem Tag zur Einweihung gekommen, als der Anschluß des Gebietes des Herzogtums Nassau an Preußen offiziell verkündigt wurde.

Das rote Rathaus in Montabaur ist zwar aus roten Backsteinen, die Bezeichnung, die ich dem Gebäude gegeben habe, verweist indirekt auf den "red Lew", den roten Löwen, den alten Ort der Gerichtsbarkeit in der ehemals ganz ummauerten Ackerbürgerstadt.
Es ist gut möglich, daß sich in historischen Texten sehr verschiedene Bezeichnungen für das alte Rathaus finden.

Karl-Ludwig Diehl